Die Gasse der Wahrheit (Merle Freymann)

Krimi – Wettbewerb des Medienzentrums Ratingen 2023 

Und hiermit werden diese Taten bewiesen werden:

Die Türklingel schreckte mich aus meiner Arbeit. Freudig sprang ich von meinem Stuhl auf, denn ich erwartete noch ein äußerst wichtiges Paket für mein Arbeitsprojekt. Ein weiteres Schellen ertönte. „Ich komme!“ Als ich die Tür schwungvoll aufriss, schaute ich nicht in die bekannten blauen Augen unseres Postboten, sondern in die Augen zweier Männer, die unterschiedlicher hätten nicht sein können. Der eine schlank und groß, der andere breit und klein. Ich blickte die beiden fragend an. Erst dann fielen mir ihre Uniformen auf. Polizei. Warum stand die Polizei bei mir vor der Tür? Hatte ich etwas verbrochen? Mir schossen tausende von Fragen in den Kopf. „Guten Tag. Kriminalpolizei. Mein Name ist Tobias Clemenz und das ist mein Kollege Marc Müller“, stellte sich Tobias Clemenz vor und hielt mir seinen Dienstausweis unter die Nase. Sein Kollege tat es ihm gleich. Meine Stimmung ändert sich schlagartig. „Kriminalpolizei?“, war das Einzige, was ich in diesem Moment rausbringen konnte. „Sind sie Larissa Spätzel?“, fragend sah Marc Müller mich durch seine Brille an. Ich nickte. „Vielleicht könnten wir kurz reinkommen, Frau Spätzel? Es müssen ja nicht alle Nachbarn mitbekommen, warum wir hier sind.“ Ich sah nun wieder Tobias Clemenz an und trat zur Seite: „Immer geradeaus und dann die rechte Tür, da ist das Wohnzimmer.“ Ich deutete in meine Wohnung und folgte den Polizisten in mein Wohnzimmer. „Es ist gerade nicht ordentlich hier. Ich studiere Kosmetik und bin total im Stress.“ Ich zeigte auf einen großen Haufen aus Klebern, Blättern und vielem mehr. Marc Müller brachte ein verständliches Lächeln über seine Lippen. „Frau Spätzel, wollen Sie sich vielleicht setzten?“, fragte Tobias Clemenz, welcher sich an die Wand gelehnt hatte. Ich setzte mich sofort aufs Sofa und schaute die beiden an. Marc Müller war schlank und groß, außerdem saß auf seiner Nase eine schwarze Brille. Sein braunes kurzes Haar war zurückgegelt. Er war das absolute Gegenteil seines Kollegen Tobias Clemenz, der kleiner und breiter gebaut war. Unter seinen Augen prangten Sommersprossen. Sein blond, braun, langes Haar hatte er hinter seinem Rücken zu einem Zopf zusammengebunden. „Frau Spätzel“, fing Marc Müller, der sich neben mich aufs Sofa gesetzt hatte, nun an. „Sie wohnen hier ja nicht allein, oder?“ Ich schaute ihn verdutzt an. „Nein, das stimmt. Ich wohne mit meiner Freundin Karin hier. Wenn Sie zu ihr wollen, müssen Sie noch ein paar Stunden warten. Sie ist gerade in der Uni und kommt erst später wieder.“ Die beiden sahen mich mitleidend an, so als ob sie mir mit ihrem Blick etwas sagen wollten. „Geht es ihr gut? Karin geht es doch gut, oder?“ Ich wurde immer aufgewühlter. „Wir wurden heute Morgen, aufgrund einer Ruhestörung, in die Kunst-Universität Düsseldorf gerufen. Vor Ort fanden wir jedoch etwas anderes vor. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihre Freundin Karin ermordet worden ist.“ In diesem Moment brach eine Welt in mir zusammen. Ich fühlte noch nie so einen großen Schmerz. Wie konnte jemand Karin so etwas antun? „Ermordet?“ Durch meine glasigen Augen erkannte ich nur wage, dass mir ein Taschentuch gereicht wurde. „Ihr Verlust tut uns sehr leid! Sie müssen wissen, dass wir alles daransetzten, den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen!“, versuchte mich Tobias Clemenz aufzubauen. Doch ich war in ein schwarzes, leeres, tiefes Loch gefallen. In ein Loch, aus dem ich nicht so schnell wieder rauskommen konnte. Was sollte ich nur ohne sie machen? Sie war meine beste Freundin. Wir haben alles gemeinsam gemacht. „Sie müssen uns noch ein paar Fragen beantworten, wenn es für Sie in Ordnung ist. Wir können aber natürlich auch nochmal an einem anderen Tag wiederkommen“, riss mich Marc Müller aus meinen Gedanken. „Nein, nein. Das geht schon. Fangen sie ruhig an.“ Mit diesen Worten setzte ich mich wieder gerade auf das Sofa und wischte mir meine Tränen von der Wange. „Wann haben Sie Karin denn das letzte Mal gesehen?“ „Heute Morgen beim Frühstück.“ Meine Sicht verbesserte sich ein wenig und ich erkannte nun, wie Marc Müller seinen Schreibblock und einen Stift zückte. „Können Sie das noch etwas genauer sagen?“, fragte mich Tobias Clemenz ein wenig genervt. „Das müsste gegen 7 Uhr gewesen sein.“ „Und hatte Karin in den letzten Tagen irgendetwas auffälliges gesagt, gemacht, ihr Verhalten verändert?“ „Nein, nicht das ich wüsste… Obwohl, sie war gestern ziemlich sauer, aber den Grund dafür weiß ich nicht. Ich wollte sie heute Morgen fragen, aber da war sie wieder fröhlich, daher habe ich nicht gefragt.“ Tobias Clemenz nickte und fragte weiter: „Hatte sie irgendwelche Feinde oder Probleme?“ „Nein, auf keinen Fall! Sie war eine so liebenswerte Person. Jeder mochte sie.“ „Vielen Dank, das war dann erstmal alles. Wenn wir noch irgendwelche Fragen haben, kommen wir auf sie zurück.“ Mit diesen Worten stand Marc Müller auf und schenkte mir noch ein Lächeln. „Wir werden Sie in den nächsten Tagen noch einmal kontaktieren, damit die Spurensicherung einmal zu Ihnen kommen kann. Wir wünschen Ihnen viel Kraft!“ Mit diesen Worten drehte sich Tobias Clemenz um und machte sich auf den Weg zu Tür. Ich wollte aufstehen, doch da schüttelte Marc Müller den Kopf und sagte: „Wir finden den Weg allein raus, ruhen sie sich lieber aus!“ Erst als die Tür hinter den beiden ins Schloss fiel, nahm ich wahr, was gerade passiert war.

Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass es nicht noch schlimmer werden könnte, doch da hatte ich mich getäuscht.

Nach einer tränenreichen und schlaflosen Nacht wollte ich mich einfach nur noch begraben. Es machte alles keinen Sinn mehr. Ich war allein, Karin war nicht da und würde auch nicht mehr wiederkommen. Es war ein Mord und die Polizei tappte im Dunkeln. Weder Hinweise noch Indizien. Keiner wusste irgendetwas. Ich schenkte mir gerade eine große Tasse Kaffee ein, als mein Handy klingelte. „Spätzel?“, meldete ich mich. „Guten Morgen. Clemenz hier. ´Tschuldigung für die frühe Störung, aber möchten Sie mich in die Pathologie begleiten?“ Ich sah auf. Jetzt sollte ich Karin sehen können? So leblos, kalt und starr? „Ich weiß nicht so Recht…“ „Viele reagieren so wie Sie.“ Sollte das heißen, viele Menschen verlieren ihre Freundin durch einen Mord? Doch ich hielt meine Wut zurück. „… bei allen unterschiedlich, doch es hilft bei der Trauerbewältigung, glauben Sie mir!“ Ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, wie es helfen sollte, dass ich meine tote Freundin sehen konnte, doch ich stimmte zu.

Nur zwanzig Minuten nach unserem Telefonat holte mich Tobias Clemenz mit seinem Polizeiwagen bei mir zuhause ab.

„Wie geht es Ihnen?“, unterbrach Tobias Clemenz die Stille. Wie sollte es mir schon gehen? Sollte es mir normal gehen? Sollte ich mich in meiner Wohnung verstecken und trauern? Ich wusste es nicht. „Ziemlich schlecht. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen…“ „Das tut mir leid. Aber glauben Sie mir, so ein letzter Abschied fällt niemandem leicht, aber er hilft, wirklich!“ Ich sah aus dem Fenster. Die Landschaft aus Häusern verschwand langsam hinter uns und wir kamen an Feldern und Wiesen vorbei. So wie ich in die Ferne schaute, wurden meine Augen immer schwerer und ich schlief ein.

„Wir sind da, Frau Spätzel.“ Ich schlug sofort meine Augen auf und sah Tobias Clemenz an. „`Tschuldigung!“, räusperte ich mich kleinlaut. „Alles gut. Sie hatten eine schwere Nacht hinter sich“, und schenkte mir ein Lächeln. Er deutete auf eine Tür: „Da müssen wir hin. Sind Sie bereit?“ Ich sah auf die Tür und plötzlich fühlte es sich ganz falsch an, hier zu sein. Doch es wird sich anders herausstellen.

Ich stieg langsam aus dem Auto aus und ging zur Tür. Tobias Clemenz sah mich an und ich nickte ihm zu. Er musste eine Karte vor einen Scanner halten und dieser öffnete die Tür mit einem leisen Piepen. Niemals hätte ich gedacht, dass man nur mit einem speziellen Ausweis in die Pathologie kommt. Gibt es dort so viele wichtigen Dinge, die gestohlen werden könnten? „Nach Ihnen“, riss mich Tobias Clemenz aus meinen Gedanken. Ich ging in das Gebäude und folgte einem kleinen Gang. „Hier einmal rechts“, sagte Tobias Clemenz und ich gehorchte. Es wurde kälter und dunkler, je weiter wir gingen. „Guten Morgen Tobias! Schön dich mal wieder zu sehen. Sonst schickst du ja immer den armen Marc.“ Eine groß gebaute Frau war vor uns aus einem Raum getreten und auf uns zu gekommen. „Marc hat eine Dienstbesprechung und konnte deswegen nicht und ich glaube jeder versteht, dass man nicht gerne in die Pathologie seiner Ex–Frau fährt, oder?“ Fragend sah er mich an und ich nickte hastig. Ohne diese Informationen hätte ich mir nie vorstellen können, dass sie mal ein Paar gewesen waren. Tobias Clemenz war mal wieder das genaue Gegenteil dieser Frau.

„Guten Morgen, ich bin Chef-Pathologin Dorothe Langner. Sie müssen Frau Spätzel sein, nicht? Mein aufrichtiges Beileid!“ Ich sah sie an. „Danke schön.“  „Wollen Sie ihre Freundin noch einmal sehen?“ Ich nickte ihr zu. „Dann folgen Sie mir.“ Während sie vor uns herging, fuhr sie fort: „Bestimmt hat Ihnen Tobias Clemenz schon gesagt, dass es am Anfang sehr komisch sein kann, eine Verstorbene zu sehen, vor allem wenn es sich um jemanden aus seinem engeren Kreis handelt. Aber Sie schaffen das und wenn es Ihnen zu viel wird oder Sie eine Pause brauchen, sagen Sie uns das einfach und wir holen Sie wieder zu uns.“ Sie schenkte mir noch ein Lächeln und trat in einen Raum und auch Tobias Clemenz tat es ihr gleich. Ich folgte mit etwas Abstand und schaute mich um. Der Raum war spärlich eingerichtet, das Nötigste fand seinen Platz in einem großen Schrank, der sich bis zur Decke hochzog. Dorothe Langner schob mir einen Drehstuhl zu. Ich nickte dankend und setzte mich auf diesen. „Wir müssen nun einmal Schutzkleidung anziehen, sprich Kittel, Haarnetz und Schuhüberzieher. Dann können wir zu ihrer Freundin gehen. Karin liegt unter einem Laken, welches nur den Kopf nicht bedeckt. Sie dürfen ihre Freundin nicht anfassen und müssen das Laken genauso liegen lassen, wie es jetzt liegt. Bilder machen ist untersagt, ich glaube, dass versteht sich von selbst. Joa, und sonst können Sie jederzeit durch diese Tür“, sie zeigte auf eine große Tür im hinteren Teil des Zimmers, „den Raum verlassen.“ Ich sah sie an und nickte. Wir zogen unsere Schutzkleidung an und gingen auf die hintere Tür zu. „Sind Sie bereit?“ „Ja!“, log ich, doch im Nachhinein war es eine gute Entscheidung gewesen, dies zu tun. Dorothe Langner ging durch die Tür und hielt sie uns auf. Tobias Clemenz folgte ihr. Ich atmete noch einmal tief ein und schritt in den Raum. Der Raum war schwach erleuchtet und wirkte sehr gefühlslos. Für doch so eine gefühlsvolle Lage, in der man sich befand, blieb der Raum trostlos. Ich drehte mich und erlangte einen Blick auf unzählige Schränke und Schubladen. Und dann sah ich sie. Karin. Sie lag auf einem Tisch inmitten des Zimmers. Es sah aus, als würde sie nur tief und fest schlafen. So ruhig lag sie da. Ich merkte, wie sich eine Träne ihren Weg auf meiner Wange bahnte. Dieser Anblick gefiel mir nicht. Sie da so liegen zu sehen, ohne Herzschlag, ohne Atmung ohne einen Hauch an Leben, das war sie nicht. Sie war die verrückte Karin. Sie kam auf die lustigsten Ideen, auf die keiner sonst kam. Sie war die, mit der man stundenlang lachen konnte, und jetzt strahlte sie so eine Ruhe aus. Eine unnormale Ruhe. Ich trat näher an sie heran. Ich schaute sie genauer an. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Haare lagen offen neben ihrem Kopf, ihre Lippen waren bläulich und ihre Haut war blass. „Es tut mir so leid!“, flüsterte ich ihr zu. Meine Tränen wurden nun immer mehr und ich konnte sie nicht mehr zurückhalten. Ich kann nicht sagen, wie lange ich nun so dort stand, ob fünf Minuten oder eine ganze Stunde, es war die schlimmste aber zugleich auch irgendwie schönste Zeit, die ich erlebt hatte. Als sich meine Tränen wieder ein bisschen beruhigt hatten, sah ich Karin noch einmal an. Meine Sicht war noch verschwommen, doch ich konnte sie erkennen. „Ich werde denjenigen finden, der dir das angetan hat, und er wird hinter Gitter kommen, versprochen! Ich liebe dich, Karin und ich werde mich immer an dich erinnern!“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und mir lief wieder eine Träne die Wange herunter. „Sind Sie fertig?“, fragte Dorthe Langner mich und ich nickte. Sie öffnete die Tür und hielt sie mir auf. Ein letztes Mal drehte ich mich zu Karin um: „Du wirst mir fehlen!“ und schritt in den anderen Raum.

Tobias Clemenz und ich saßen abermals im Auto. „Danke, dass Sie mich davon überzeugt haben, hierher zu kommen. Ich glaube es hilft wirklich!“ Ich sah mich an. „Gerne, dass ist mein Job.“ Währenddessen fuhr er den Waagen gekonnt aus unserer Parklücke auf die Straße. „Wir haben ein paar neue Hinweise auf einen mutmaßlichen Täter.“ „Oh wirklich. Das ging aber schnell!“ „Ja, bei Morden sind wir meist schnell.“ Er lachte kurz und auch ich lachte. „Nein, Spaß beiseite. Wir haben im Moment zwei Tatverdächtige. Sie sind Mitarbeiter der Wernecke GmbH.“ Ich unterbrach ihn: „Wernecke GmbH? Wie kommen Sie denn auf die?“ „Sie kennen die Firma?“ „Nicht wirklich, aber Karin hatte öfters über die gesprochen. Sie finanzieren ein paar Stipendien. Sie hatten wohl auch Interesse an ihr. Aber warum sollte jemand von denen, sie dann umbringen wollen?“ „Wir wussten, dass die Wernecke GmbH Stipendien finanziert, aber nicht, dass Karin auf deren Liste stand. So müssen uns einige der Verdächtigen noch mal ein bisschen was erklären.“ Mit diesen Worten rief Tobias Clemenz seinen Kollegen an. „Tobi hier, die Beweislage hat sich geändert. Hol doch bitte nochmal Herrn Walter und Herrn Gustav auf die Wache, die beiden müssen uns auf die Sprünge helfen.“ Und schon hatte er wieder aufgelegt. „So schnell geht das bei Ihnen?“ „Nein, nein. Aber bei so Sachen muss man nicht so viel drumherum klären. Wo waren wir stehen geblieben? Ach so, wir haben zwei Tatverdächtige. Beide haben für die Tatzeit, 13:00 – 13:30 Uhr, kein Alibi. Zudem wurden ihre Fingerabdrücke am Tatort sichergestellt und an der Leiche.“ „Und wo ist der Tatort?“ Fragend sah ich ihn an. „Eigentlich wollte mein Kollege sich bei Ihnen melden und alles erzählen, aber anscheinend ist er noch nicht dazu gekommen. Wir konnten durch die mutmaßliche Tatwaffe den Tatort finden. Dieser wurde von oben bis unten nach weiteren Hinweisen abgesucht: vergeblich. Lediglich wurden Spuren von unseren Verdächtigen, ihrer Freundin und weiteren Personen, zu welchen wir keine Treffer in unserer Datenbank haben, sichergestellt. Der Tatort ist nun auch wieder für alle frei zugänglich. Es handelt sich um eine Gasse hinter der Universität.“ „Na da können die anderen Fingerabdrücke auch von allen anderen Studenten sein?“ „Das dachten wir uns auch schon und die sind zum Glück noch nicht bei der Polizei bekannt.“ Er schmunzelte. „Die Spurensicherung ist gerade bei Ihnen, dadurch bekommen wir vielleicht noch mehr Indizien.“ „Ja, dass hoffe ich auch!“ Den Rest der Fahrt schwiegen wir. „Wir sind wieder da. Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie uns an. Tschüss!“ „Danke fürs Fahren und werde ich machen! Tschüss!“ Mit diesen Worten öffnete ich die Beifahrertür und stieg aus dem Auto. Ich winkte dem Auto noch hinterher und ging in meine Wohnung.

Nach dem Besuch in der Pathologie stand eins für mich fest: Ich wollte den Mörder von Karin finden. Und so stand ich am gleichen Tag vor der Eingangstür der Wernecke GmbH. Ich wollte mir selbst einen Überblick verschaffen. Über die Verdächtigen. Und hoffentlich einen Hinweis auf das Tatmotiv finden, denn ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, weshalb es jemand auf Karin abgesehen hatte.

Die große Schiebetür am Eingang ging surrend auf, als ich davor trat. „Guten Mittag. Willkommen bei Wernecke, ihrer Firma für Badezimmermöbel und Co. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Ich sah die junge Frau überrumpelt an. „Guten Mittag, ich suche jemanden. Und zwar war die Polizei bei Ihnen, wegen eines Mordes.“ „Das stimmt. Furchtbar das es jemand aus unserer Firma gewesen sein könnte. Vor allem würde ich sowas niemals dem Herrn Walter zutrauen. Er kann keiner Fliege was zuleide tun. Er grüßt immer höfflich, kann nicht nein sagen und ist wirklich ein ganz lieber.“ Sie wischte sich ihre gelockte Strähne aus dem Gesicht. „Aber mal unter uns, dem Herr Gustav würde ich alles zutrauen. Der ist schon des Öfteren bei anderen Firmen gefeuert worden, weil er wohl aggressiv gegenüber Kunden und Mitarbeitern geworden ist.“ Sie schaute mich an und schüttelte den Kopf. „Aber Sie wollten bestimmt etwas anderes wissen, nicht?“ Ich hatte nicht gedacht, dass ich so schnell an Informationen kommen werde. Ich sah sie dankend an. „Sie haben mir damit schon ordentlich weitergeholfen! Danke. Ich würde mich dann gerne noch ein wenig umsehen, wenn es in Ordnung ist.“ Sie nickte. „Klar, schließlich ist das hier ein offener Laden. Bei Fragen kommen Sie einfach auf mich zu.“ So ließ sie mich im Eingang nun stehen. Ich ging in den Laden und schlich durch die einzelnen Gänge, aber nirgends fand ich weitere Hinweise. Die Verdächtigen waren bestimmt schon auf der Polizeiwache und wurden von Tobias Clemenz und Marc Müller verhört. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als ich ein interessantes Gespräch mit anhörte. „… weg. Kein Problem mehr. Alles nach Plan… Nicht in Gefahr.“ Das hörte sich doch ziemlich nach Krimi an, doch vielleicht hilft mir es weiter. Die tiefe Stimme verstummte. Als ich um die Ecke des Ganges ging, sah ich einen großen Mann mit lila Shirt. Anscheinend ein Mitarbeiter des Ladens, denn auf seiner Brust prangte das Wernecke Logo. „Kann ich Ihnen helfen?“ brummte er mich an. „Nein, obwohl, doch.“ „Was denn jetzt?“ Ist ja schon gut, man muss ja nicht gleich so unfreundlich sein, dachte ich mir. „Die Polizei war wegen eines Mordes hier. Das Mordopfer war meine Freundin.“ Bei diesem Satz zog sich mein Magen zusammen. „Ich hätte eine Frage, und zwar…“ Doch weiter kam ich nicht, denn er unterbrach mich. „Ich habe schon alles der Polizei erzählt, ich habe keine Ahnung, wie ihrer Freundin erstochen wurde oder warum.“ Er drehte sich um und ging. Während ich verblüfft dort stand, musterte ich ihn noch mal. Er hatte ein lila Armband und lila Schuhe an, wahrscheinlich weil er lila mochte. Komisch. Sein Verhalten war schon ziemlich auffällig, und woher wusste er das Karin erstochen wurde? Wurde sie überhaupt erstochen? Ich wusste es ja noch nicht einmal. Auf dem Weg zum Ausgang kam ich an einer Wand mit Bildern lang. Dort waren alle Mitarbeiter mit Bild und Name ausgestellt. Ich suchte und fand ihn sofort. Eric Fische. So heißt du also.

Ich saß in meinem Auto. Eric Fische hatte sich ziemlich verdächtig verhalten, doch anscheinend war er kein Verdächtiger für die Polizei. Also hatte er ein Alibi, doch warum hatte er so reagiert?

„Gasse hinter der Uni“, hatte Tobias Clemenz gesagt. Und die Uni war hier direkt um die Ecke. So stieg ich wieder aus meinem Auto und war fest entschlossen in diese Gasse zugehen, auch wenn es schwierig werden könnte und ich keine weiteren Hinweise mehr finden konnte, denn die Polizei hatte alles abgesucht.

Fünf Geh-Minuten von der Wernecke GmbH entfernt war die besagte Gasse. Ich stand nun vor der Gasse, in der alles passiert war: In der meine Freundin ihre letzten Atemzüge geatmet hatte. In der sie als letztes gewesen war. Mir kullerten zwei Tränen über die Wange. „Ich muss jetzt stark sein. Für dich.“ Dabei schaute ich in den Himmel, in der Hoffnung Karin würde zu mir runtersehen und mir Kraft geben. Ich trat in die Gasse und fühlte, nichts. Doch, Trauer, aber nicht so, wie ich es vorerst gedacht hatte. Es fiel mir zwar immer schwerer weiterzugehen, je näher ich zu den Überresten des Polizeiabsperrbandes kam, doch sonderlich anders war es doch nicht. Ich kam an der Stelle an, an der noch ein Teil Sperrband hing. Hier war es also geschehen. Genau hier. Ein wenig komisch war es schon, wenn man dran dachte, was hier passiert war. „Umso schneller du schaust, umso schneller bist du zuhause!“, sagte ich mir selbst.

Ich schaute an allen Stellen, wenn man das so nennen konnte. Ich schaute unter Steinen und an den Wänden. Die Gasse war sehr schmal, weshalb es nicht allzu viele Möglichkeiten gab, an denen etwas hätte sein können. Und dann fand ich etwas. Und nicht irgendetwas. Ich streckte meine Hand aus und zog hinter einem Stein, ein Messer hervor. Lila. Blutverschmiert. Es war das Messer. Das Messer, welches meine Freundin umgebracht hatte. Ich stand unter Schock. Ich fühlte Schmerzen in meinem Herzen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie die letzten Minuten für Karin waren. Diese Schmerzen, unter denen sie gelitten haben musste, wie konnte jemand ihr so etwas nur antun? Und warum? Ich hielt die Tatwaffe in meinen Händen, aber das hieße, dass die Polizei sie nicht hat. Aber das hatte mir Tobias Clemenz heute Morgen doch gesagt? Und dieses Messer hätten sie mit großer Wahrscheinlichkeit gefunden. Und was bedeutete das im Nachhinein? Der Mörder musste es hier absichtlich positioniert haben, denn er wusste, dass ich es finden werde. Er wollte, dass ich es finde. Und dieser jemand liebte lila.

Mein Handy riss mich aus meinen Gedanken. „Hallo, Spätzel hier.“ „Guten Mittag Frau Spätzel. Marc Müller hier. Ich habe gute Neuigkeiten für Sie. Wir haben den Täter geschnappt. Herr Gustav hat gerade eben sein Geständnis abgegeben. Er war in ihrer Freundin verliebt und hat ihr seine Gefühle gestanden, doch sie erwiderte diese nicht. Er wurde sauer, verfolgte sie und brachte sei durch zwei Messerstiche um. Sie können also beruhigt sein. Sie werden in den nächsten Tagen noch wegen des Berichtes auf die Wache gerufen und dann ist alles über die Bühne! Ich wünsche Ihnen alles Gute!“

Mit diesen Worten legte Marc Müller auf. Ich stand mit meinem Handy in der einen und dem blutigen Messer in der anderen Hand in der Gasse.

Und nun ist jemand im Gefängnis, der dort eigentlich gar nicht hingehört?

Denn ich kenne die Wahrheit. Den wahren Täter. Und er weiß es.

Zwei Monate, nachdem das alles passiert war, tippe ich nun die letzten Zeilen des Buches in meinen Laptop, als ich von meiner Klingel unterbrochen wurde. Ich stand auf, ging zur Tür, öffnete.

Ich sah ihm direkt in die Augen.